IM BUCHHANDEL

ISBN 978-3-643-11120-3.

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Hannes Michel „Dzogchen im Westen.“

Eine qualitative Studie zur Psychologie der nondualen Bewusstseinserforschung anhand von Experteninterviews.

Erschienen im LIT-Verlag

Aus dem Buch:

Da unsere wahre Natur ursprünglich rein, immerwährend, alles durchdringend, gegenwärtig ist, sind ihrer Erkenntnis keine Grenzen gesetzt. (Michel, Dzogchen im Westen, 2011)

Wenn wir unserem wahren Wesenskern, welcher an sich reine Liebe ist, erlauben, sich endlos zu öffnen in alle Richtungen (…), so leben wir in beständig vertiefender Intimität im nondualen Ozean. (Michel, Dzogchen im Westen, 2011)

Wenn die Quelle von allem erkannt wird und darin geruht wird, sind darin alle Qualitäten enthalten. Damit ist auch die Quelle der Liebe und des überfließenden Mitgefühls entdeckt. Mitgefühl braucht nicht künstlich kreiert oder produziert werden, sondern fließt als überfließende Liebe zu allen Wesen auf natürliche Weise. Wenn die Kraft dieses „alles-liebenden-Mitgefühls“ entdeckt wird, ist jede noch erscheinende Trennung schmerzhaft und jede nicht gel(i)ebte Tat aus dieser universellen Liebe heraus schmerzhaft oder unvollständig.
Wenn wir uns im tiefsten Kern lieben können, wird alle scheinbare Trennung transzendiert und alles durchdringende Mitgefühl erstrahlt auf natürliche Weise aus sich selbst heraus. Es geht im Dzogchen-Weg darum, sich selbst so innig und zartfühlend zu lieben, dass der Quell der uns innewohnenden Buddha-Natur, welche reine Liebe ist, die subtilsten Spaltungen in unserer Wahrnehmung und in unserem konditionierten Geist leer spült.
Aufgrund von früheren Verletzungen und Konditionierungen verschließen wir uns eher aus Angst, als dass wir uns in die unendliche Liebe öffnen. Doch gerade die zärtlichste Öffnung zum tiefsten Innenreich der Liebe, unserer Buddha-Natur, ermöglicht die Freiheit der alles umfassenden Liebe oder des Mitgefühls. (Michel, Dzogchen im Westen, 2011)

Um auf die Erscheinungen jedoch nicht mehr auf dualistische Weise zu reagieren, be­darf es einer äußerst tiefen Losgelöstheit des Geistes oder des Bewusstseins mit sich selbst: mit den Inhalten und dem Kontext, den Phänomenen im Innern wie auch im Außen. Diese selbstbefreiende Loslösung, welche in Wahrheit auch kein Loslösen ist - es ist nur ein Ruhen in der wahren Natur dessen, was ist - kann jedoch erst stattfinden, wenn das Bewusstsein zu der Reife gelangt ist, seine eigenen selbstkreierten Selbstbilder nicht mehr verteidigen zu müssen und stattdessen im leeren, todlosen Raum zu verweilen, in dem, was ist.
Wenn erst einmal die grenzenlose Freiheit erfahren wird, kein Selbstbild mehr auf­recht erhalten oder verteidigen zu müssen, sondern erkannt wird, dass die wahre Stärke und Freiheit aus dem Nicht-Greifen dessen aus sich selbst heraus erstrahlt, alles in seiner unver­gänglichen wahren Natur zu belassen, stellt sich ein Frieden ein und eine Erfüllung, die keiner Worte bedarf. Das Gold strahlt aus sich selbst heraus und die Leerheit wird sich selbst belas­sen.
Das schließt natürlich auch ein, dass kein Selbstbild abgelehnt wird im Innern wie auch im Außen. Wenn bestimmte Selbstbilder noch erscheinen sollten, von außen an einen projiziert oder aus dem Innern noch erscheinend, möglicherweise aus der Kindheit, sind diese auch in ihrer wahren Natur willkommen als Erscheinungen. Was in Erscheinung tritt, wird weder gegriffen noch abgelehnt. Somit kann sich allmählich alles in dem Sinne beruhigen, dass immer weniger Geistesaktivität initiiert wird, welche Dualität kreiert.
Dies kann und muss soweit gehen, dass auch alle unterdrückten Emotionen eines Tages oder eines Nachts in ihrer wahren Natur erkannt werden. Erst dann, wenn in den Erscheinung der heftigsten Energien wie Todesangst und mörderischem Zorn die Energien als Erscheinungen des Dharmakayas in ihrer wahren Natur erfahren werden, kann von Befreiung aus den karmischen Wellen gesprochen werden. So muss alles in dem Augenblick des Entste­hens in der wahren Natur erkannt werden. Geschieht dies nicht, werden die aufsteigenden Wellen in ihrer nondualen Natur nicht erkannt, sondern manifestieren sich im Hauch eines Augenblickes später in dualistischen Erscheinungen, und der Geist wird davongetragen in seinen endlosen Projektionen und Kreationen, kämpfend und verteidigend der eigens kreier­ten Welt.
In der tiefen Aussage von Dzogchen-Meister Yongdzin Lopön Namdak, dass unsere Gedanken das ganze Universum kreieren, steckt die Weisheit, dass, wenn wir nicht mehr am Selbstbild festhalten und versuchen, es aufrecht zu erhalten oder wegzudrücken, wir auch nicht mehr an dem selbstkreierten Weltbild festhalten oder dagegen ankämpfen brauchen.
Das Selbstbild ist im größeren Kontext ein Weltbild. Ohne das Selbstbild gibt es auch kein stabiles Weltbild mehr. Ohne ein vergängliches, illusionäres Selbstbild ist auch das vergängliche, illusionäre Weltbild enttarnt. Und hier angelangt, wird man eingeladen in ein kontinuierlich tieferes Ruhen in der Quelle von allem was ist, von dem aus alle Erscheinungen in Erscheinung treten. (Michel, Dzogchen im Westen, 2011)

Wenn beständig über den Tod und die Vergänglichkeit aller Erscheinungen meditiert wird, kann sich darin das ursprünglich reine, todlose Gewahrsein offenbaren. Was auch immer erscheint, sterben zu lassen, ist ein Eingangstor zu tiefster Erfüllung und Glückseligkeit. Wenn über längere Zeit bewusst über die Vergänglichkeit von allem kontempliert wird, kann sich daraus unweigerlich ergeben, dass Ereignisse und Momente als zutiefst kostbar erlebt werden. Alltägliche Geschehnisse werden mit einer tiefen Freude erfahren, die unter konditionierter ‚Alltagstrance’ nicht mit solch einer kostbaren Präsenz und aus solcher Kostbarkeit heraus erlebt werden. Den Tod aller Dinge zu sein, bedeutet alles zu transzendieren.
Dinge, die wichtig erschienen, werden trivial, vollkommen leer und bedeutungslos, und Dinge, die bedeutungslos waren und nicht in ihrer wahren Natur und Präsenz wahrgenommen wurden, erhalten und enthalten tiefste Erfüllung.
Den Tod einzuladen und zu sterben, bevor der Körper stirbt, ist die Essenz aller Weisheitstraditionen und direkter Weg zur Realisation der wahren Natur. (…)
Was auch immer noch erhofft wird erreichen zu können, die große Vollkommenheit wird dadurch nicht berührt. Was auch immer befürchtet wird verloren zu gehen, die große Vollkommenheit bleibt vollkommen. Weder durch Hinzufügen noch durch Abnahme ist und bleibt die große Vollkommenheit ursprünglich rein und vollkommen leer. (Michel, Dzogchen im Westen, 2011)